Der pure Horror? Das Kind ist weg, und man kann es nicht finden. Exakt 33 Minuten lang. Unlängst passiert, als ich Peter aus dem Jugendbüro abholen wollte. Und er nicht da war.
Mein Sohn ist mittlerweile sechs Jahre alt. Deshalb sind mein Gatte und ich der Ansicht, dass das Kind den kurzen Weg von seiner Schule bis zum Rathaus (wo Parkplätze sind) gut zu Fuß gehen kann. Nach eineinhalb Wochen Schule trauen wir uns noch nicht so recht, ihn den gesamten Schulweg zu uns ins abseits gelegene Wohngebiet zurücklegen zu lassen – wir wohnen am einen Ende des Fleckens, die Schule befindet sich exakt am anderen. Peter indes ist stolz darauf, dass ich ihn nicht direkt am Schultor ins Mama-Taxi einlade. Diese kleine Selbstständigkeit habe ich auch immer all jenen gegenüber verteidigt, die erstaunt gefragt haben: „Was? Du holst ihn nicht direkt an der Schule ab? Findet er denn den Weg?“ Ehrlich gesagt, sind meine Brüder und ich stets alleine heimgewackelt nach Schulschluss – von Klasse eins an. Und wir hatten auch ein gutes Stück. Klar, Anfang der 80er waren das andere Zeiten, aber dennoch finde ich, haben Kinder auch heutzutage keine Käseglocke verdient, sondern ein Stück Selbständigkeit. Das Gefühl, „das krieg‘ ich alleine hin…“ ist doch super. Ich freue mich ja auch, wenn ich ein Programm auf meinem Rechner ganz allein installiert habe, und es danach läuft. Peter wird mittelfristig auch allein zu Fuß heimgehen müssen. Dabei, so schätze ich, wird er ordentlich maulen.
Lange Einführung. Letzten Donnerstag stand ich nun also am Rathaus. Peter war nachmittags zum ersten Mal alleine im Jugendbüro gewesen, das für Erst- bis Viertklässler bei uns im Ort ein tolles Programm anbietet. Wer danach nicht kam, war mein Sohn. Peter ist eine kleine Trödelliese, von daher machte ich mir erst nach guten zehn Minuten Sorgen. Vorsichtshalber ging ich ihm entgegen. Der Schulhof war leer. Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Magen – so wie damals, als wir uns im Gartencenter verloren hatten. Damals hatte mich eine Lautsprecher-Durchsage erlöst: „Der kleine Peter wartet an der Kasse auf seine Mama.“ Auf dem Schulhof gibt es leider keine solche Durchsage. Dafür aber meinen Lieblingshausmeister. „Dein Sohn? Der is soeben mit den anderen losjewackelt“, berlinerte er fröhlich drauflos, „den findste sicherlich. Der haut Dir doch nich ab. Aber ich glaub, er ist mit allen anderen die Straße lang. Und nich wie ausgemacht unten rum.“ „Unten rum“ führt der Weg, den die Schulkinder eigentlich nehmen sollten: über Fußgängerwege bus- und autofrei ans Rathaus. Aha. Eine Abmachung nicht eingehalten. Werde ich sauer? Nein – ich merke, wie mir der Angstschweiß klebrig den Rücken hinunterläuft. Man liest so viel… habe ich das von der viel gepriesenen Selbständigkeit? Vor meinem geistigen Auge ziehen Horrorszenarien vorbei: Kinderschänder, Busunfälle, mein weinendes Kind. Schnell verscheuche ich diese Gedanken. Ich zwinge mich ruhig zu bleiben und klaren Kopf zu waren. Mein Lieblings-Hausmeister bietet mir gutmütig an, auf seinem Motorroller eine Runde ums Karré zu drehen und Ausschau nach dem verlustig gegangenen Sohnkind zu halten. Ein Schüler, der das Jugendbüro unterstützt, fährt die Strecke freundlicherweise mit seinem Rad ab. Peter bleibt verschwunden. Ich bin klatschnass geschwitzt und renne eine Runde nach der anderen zwischen Schule und Rathaus hin und her. Böse Menschen, denke ich, gibt’s vielleicht ja auch auf dem Dorf?
Eins vorneweg: Ich habe Peter wiedergefunden. So wie wir die Sache rekonstruiert haben, muss er tatsächlich den anderen, nicht erlaubten Weg gewählt haben – vermutlich in Gedanken und in der Traube mit allen anderen. Anschließend hat er mich gesucht – und deshalb haben wir uns nachhaltig verfehlt. Als ich mein schluchzendes Kind wieder in die Arme schließe, ist es auch um meine Fassung geschehen? Schimpfen? Iwo. Dazu bin ich viel zu erleichtert. Trotzdem klären wir in einem ruhigen Gespräch genau, welcher Weg erlaubt ist und welcher nicht. Und Peter? Ich schätze, er hat seinen Teil gelernt.