Bügelperlen, Skype-Konferenzen und Chaos auf dem Esstisch: Wie andere Familien haben wir in der Corona-Pandemie Ausnahmezustand. Ein Alltag zwischen Schularbeiten, Homeoffice und einsamen Wald-Spaziergängen.
Nusplingen. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Wie oft habe ich in den vergangenen Tagen über dieses afrikanische Sprichwort nachgedacht. Unser „Dorf“ – es ruht dank der Corona-Pandemie. Damit geht es uns wie vielen anderen Familien, die Job, Schularbeiten und „Kinderbespaßung“ unter einen Hut bringen müssen.
Denn all die Menschen, die sich sonst neben uns als Eltern um die zwei Jungs kümmern: Sie fehlen uns. Schmerzlich. Sie helfen beim Großwerden und beim Erziehen gleichermaßen – einfach, weil sie da sind. Es sind die Fußballtrainer, die geduldig Elfmeter demonstrieren. Oder die Schwimmlehrer, die den richtigen Beinschlag drauf haben. Oder es ist die herzensgute Musiklehrerin, die einmal in die Woche zur Keyboardstunde vorbeischaut. Dazu kommen die Schulpädagogen, deren Engagement über den regulären Unterricht hinausreicht. Und natürlich die Großeltern, die als ältere Menschen zur Risikogruppe gehören und die die Kinder aktuell nicht sehen. Unsere Jungs vermissen sie aufrichtig – da helfen weder Skype und Facetime, noch das gute, alte Telefon. Selbst unser Kater Balakov ist verwirrt: So viele Menschen, den ganzen Tag. Und das in seinem Haus.
Als ich einige Monate nach der Geburt meines großen Sohns, Peter, wieder zu arbeiten begann, gab es diesen schicken Namen noch nicht: Homeoffice. Damals hieß es immer lapidar: „Die arbeitet von daheim aus.“ Wenn man überhaupt davon ausging, dass ich überhaupt irgendetwas arbeitete. Oft hieß es einfach: „Ach, Du bist ja eh zu Hause…“ Aber es war mir egal. Wer jemals ein Kind großgezogen hat, der weiß, dass man den Tag auch „nur“ mit Kind gut rumbringt. Als der Kleine, Paul, auf die Welt kam, hatte sich die Welt diesbezüglich schon etwas weitergedreht. Von daher: Ich bin mein „Homeoffice“ gewöhnt.
Keiner hat eine Auszeit
Doch dieses Mal ist es anders als sonst. Das liegt daran, dass wir quasi alle im Homeoffice sind: mein Mann Markus und die beiden Jungs, inzwischen fast 15 und fast acht Jahre alt. Keiner hat eine sprichwörtliche „Auszeit“ außerhalb des Hauses. Wir nicht, die Jungs aber auch nicht. In Zeiten von Corona-Krise und Schul-Schließungen ist unser Esstisch mehr denn je zur Familienschaltzentrale geworden. Hier findet man sich aktuell nicht nur zu Spaghetti Bolo oder Hefekuchen zusammen, sondern auch zu Chemie-Experimenten, zum kleinen Einmaleins, zum Texteschreiben oder Schreibschrift-Üben. Klingt spannend? Ist es auch. Für uns wie für zigtausend andere Familien in Deutschland. Sie arbeiten, wohnen, essen, lernen – und das immer gemeinsam. Und sie machen sich Sorgen: um die Gesundheit ihrer Lieben, um verlegte Schulprüfungen, um Kurzarbeit, um ihre Existenz. Homeoffice-Zeiten sind unruhige Zeiten.
Schulaufgaben im Doppel: meistens friedlich
Auch wir sind, abgesehen von einsamen Spaziergängen, kleinen Radtouren oder Aufenthalten im Garten – immer beieinander. Irgendwie. Im Augenblick, da bin ich ganz ehrlich, hilft uns der Große sehr in dieser außergewöhnlichen Situation. Während wir Eltern am Laptop sitzen, unterstützt er seinen Bruder oft bei den Schulaufgaben, was meistens einigermaßen friedlich abläuft. Peter selbst hat vor kurzem die Schule gewechselt – von einem G9er-Gymi auf eins mit G8. Das bedeutet, dass er mehr oder weniger ein Schuljahr nachholen muss. Das hätte in „normalen Zeiten“ für einen kleinen Ausnahmezustand gesorgt. Jetzt hopsen die Jungs gemeinsam von der lateinischen i-Konjugation und mathematischen Gleichungen zum Aufbau eines Zahns oder zusammengesetzten Nomen in Schreibschrift. Als Ausgleich kocht Peter gern für uns alle: Garnelenpasta, Gulasch mit Spätzle oder Eintopf. Ich wiederum habe festgestellt wiederum, dass Mathe oder Physik nie mehr meine Lieblingsfächer werden.
Drei Wochen ohne Schule und zwei weitere mit Ferien sind also eine echte Aufgabe – und nicht nur, weil man den Schulstoff irgendwie gemeinsam hinter sich bringen muss. Man muss sich eng abstimmen und Rücksicht nehmen. Und sei es nur, damit genug Ruhe herrscht für ein wichtiges Telefonat. Mit Humor geht’s natürlich leichter – zum Beispiel dann, wenn der kleine Mann eine Skype-Konferenz mit den Worten sprengt: „Mama, die Katze kann Purzelbaum! Eeeecht!“ Ganz ehrlich: Die Sache mit dem Humor gelingt mal besser und mal schlechter. Irgendwann hat man vielleicht auch einmal genug gelesen, gemalt, gebastelt, gekocht, genug Schoko-Muffins gebacken oder Memory gespielt. Wir persönlich haben gefühlte Tonnen an Bügelperlen zu Autos und Mäusen verarbeitet, schwarzen Edding vom Holzboden gewischt, nach vergessenen Büchern gekramt oder alte Disney-Filme geguckt. Wenn wir nicht spazieren waren oder laufen oder radeln.
20 Sekunden Einseifen
Mit Glitzerpuder und blauer Farbe haben wir Paul erklärt, wie Viren weitergegeben werden – und warum Händewaschen in diesen Tagen so wichtig ist. Der Farbe und Puder wanderten hübsch von Hand zu Hand, am Ende glitzerten sogar der Salzstreuer und das Märchenbuch. Seither wäscht Paul eifrig – genauso lang wie zweimal „Happy Birthday“ singen. Für die Erwachsenen: Mit dem Refrain von „I’m so excited“ der „Pointer Sisters“ klappt es auch. Er dauert ebenfalls die empfohlenen 20 Sekunden.
Beiden Jungs hilft ein einigermaßen geregelter Tagesablauf mit Lern- oder Essenszeiten, um mit der seltsamen Zeit klarzukommen. Genauso wichtig wie Matheaufgaben oder Deutschlektüre ist es aber, sich ihrer Sorgen anzunehmen. Zum Glück konnten wir mit beiden immer gut reden. Wann darf ich wieder zu meinem Kumpel? Ins Schwimmbad? Oder in die Bücherei? Boah, ist mir langweilig: Mitunter liegen die Nerven blank. Vor allem für Paul, unser kleines Temperamentsbündel, das „Draußenkind“ mit Latzhose und Gummistiefeln, sind Regentage eine echte Herausforderung. „Mama“, schluchzte er vor ein paar Tagen herzzerreißend, „es ist wie im Gefängnis! Ich find’ das Corona-Virus so blöd!“ Wie gut konnte ich ihn verstehen! Manchmal bin ich morgens total zuversichtlich gestimmt – und schon am Mittag überrollt mich die Angst. Dann nämlich, wenn ich die hundertste Extrasendung im Fernsehen gesehen oder die allerneuesten Statistiken gelesen habe.
Was zählt: Gesundheit und Miteinander
Welche Rolle spielt es also, dass ich mich mitunter genervt fühle? Vom Chaos auf dem Esstisch? Den Diskussionen um „Glotzen“ oder Daddeln am Smartphone? Oder vom Mehr an Krach im Haus? Denn als Familie funktionieren wir ganz gut. Unter dem Strich weiß jeder, was zählt: das Miteinander und die Gesundheit. Mehr denn je. „In der Krise“, das hat Helmut Schmidt einmal gesagt, „beweist sich der Charakter.“ Da steckt viel Wahres drin. Wir sind alle fit. Wir sind nicht einsam. Wir können arbeiten. Wir können raus, in den Garten, in die Natur, uns ablenken. Denn wenn das Wetter sonnig ist, kehrt zum Glück so etwas Ähnliches wie Normalität ein. Normalität wie in der Zeit vor Corona. Sie scheint Lichtjahre her! Es gab Wochen mit Klassenarbeiten, Konferenzen im Büro und Freunden im Garten, mit Eis im Straßencafé und Konzerten im Freien. Sie kommt wieder, diese Zeit. Da bin ich mir ganz sicher.